Bei 25 °C will bei uns Europäern keine rechte Weihnachtsstimmung aufkommen. Im Dezember beginnt hier die Hauptsaison für Erdbeeren, Kirschen und Mangos. Deshalb kann man frisches Obst und Gemüse an jeder Straßenecke bewundern und günstig kaufen. Zutaten für Weihnachtsplätzchen, wie Haselnüsse, Lebkuchengewürz oder gar Marzipan sucht man dagegen vergeblich! Die gibt es hier nicht. Deshalb enthalten unsere Kaffeeplätzchen dieses Jahr Paranüsse und der intensive Geschmack der frischen Kokosraspeln kombiniert mit einem neuen Rezept haben das fehlende Marzipan wirklich wett gemacht. Auch Tannen wachsen in dieser Gegend nicht. Pinien gibt es zwar in den Bergen, aber wir sind schon froh, wenn diese nicht für neue Kartoffeläcker abgeerntet werden – für Weihnachtsbäume sind die restlichen Bestände wirklich zu schade. Deshalb wird großzügig mit künstlichem Tannengrün dekoriert, das in Koffern von der Bühne geholt wird und von Anfang an schrecklich nadelt.
Auf Landgütern und in Hallen finden Weihnachtskonzerte statt, in denen Kinder träumerisch von weißen Weihnachten, Stille Nacht auf Spanisch oder zu Mozartmelodien Weihnachtslieder singen. Dabei strahlt die Sonne, die Zuschauer essen Eis und die Kinder schwitzen unter ihren Weihnachtsmannmützen.

Mitte Dezember wurden überall blinkende Lichter befestigt (an Bäumen, Häusern, Autos …) und verschiedenste Krippen aufgestellt. Auf dem Marktplatz stehen vor der Kathedrale 3 m hohe Krippenfiguren aus Pappmache. Auf öffentlichen Plätzen entdeckt man Josef und Maria, 4 Meter weiter verlässt der Weihnachtsmann auf einem Schlitten aus Stahl mit seinen Rentieren diese Krippe. Im Theater drängelt sich der Osterhase zwischen den Schafen und im Eingangsbereich unseres Hochhauses steht ein Stall aus Holz. Allen ist eines gemeinsam: Das Kind in der Krippe fehlt. Hier glauben die Einwohner, dass es Unglück bringt, ein eigenes Christkind zu benutzen – es muss dem Haus gebracht/ geschenkt werden! Die Figur wird dann in der Kirche gesegnet, dass sie dem Haus Glück bringt.

Seit dem 19.12. finden auch Weihnachtsmärkte in den verschiedenen Stadteilen statt. Es gibt dort natürlich Essbuden und Fahrgeschäfte, wegen der Wärme auch Hüpfburgen und Trampoline für die Kinder. Jede große Wohnstraße hat eine Tanzgruppe. Zwei Monate vor dem Fest finden Proben für die Jugendlichen dieser Gegend statt. Zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes findet eine Parade statt, bei der alle Tanzgruppen mit ihren Musikern zum Festplatz ziehen. Dort wird dann regelmäßig vorgetanzt und gesungen. Seltsam muten uns dabei die Kostüme und Figuren an: Aufwändige traditionelle Gewänder, reich verzierter, sehr schwerer Kopfschmuck mit Pflanzenteilen, Federn und Fratzen, Medizinmänner, halbnackte „Kannibalen“, Tiergötter, Teufel und Opferszenen. Alle werden von einer stadtheiligen Jungfrau Maria kontrolliert und die Erzengel sorgen dafür, dass kein Teufel oder Geist – im wahrsten Sinne des Wortes – aus dem Rahmen tanzt. Alle werden gesegnet, feiern, essen und tanzen. Wenn Alkohol ins Spiel kommt, wird es dann gefährlich. Der andino-katholische Synkretismus, also eine Vermischung verschiedenster Glaubensvorstellungen wird hier deutlich sichtbar. Dabei bauen Menschen aus Angst vor bösen Mächten Altäre vor ihren Häusern auf und räuchern darauf, damit kein böser Geist ihre Häuser besetzt.
Das spiegelt die Zerrissenheit Boliviens wieder: Einerseits gibt es Teile der Bevölkerung, die sich für Gerechtigkeit, Bildung und soziale Auffangnetze auch tatkräftig einsetzen (allen voran die vielen kleinen Gemeinden von Christen); ein Großteil der Leute lebt einfach sein Leben von der Hand in den Mund und feiert jeden Tag, an dem gut gegessen werden kann, ohne sich um jemand anderen als ihre eigene Familie zu kümmern; und andererseits werden viele Menschen durch Ängste vor Geistern und Flüchen, Armut und Diskriminierung unterdrückt, ohne die Hoffnung, dass sich je etwas ändern könnte. Wir wünschen uns sehr für sie, dass auch bei ihnen Weihnachten einziehen darf und sie Befreiung und Rettung erfahren dürfen!
